Buenos Aires

 

international sepia buenosairesdicht dran... aus "Dicht dran", Seite 142:

„Dann erkläre ich Ihnen noch einen Zusammenhang: Hätte damals der Adolf Meyer gewusst, wie teuer sein Konkurrent aus Zwickau angeboten hat, dann wäre mein Opa nicht arbeitslos geworden, er hätte seiner Familie ein besseres und gesünderes Leben bieten können. Dann wäre seine Frau nicht zwei Jahre nach der Geburt meines Vaters an Schwindsucht gestorben.

Überhaupt, wenn weniger Menschen damals arbeitslos gewesen wären, hätte es diese Nürnberger Gesetze vielleicht nie gegeben. Deswegen ist mein Großvater nach dem Tod seiner Frau nach Argentinien ausgewandert, in der einen Hand einen großen Koffer, an der anderen den gerade zwei Jahre alten Hermann.

In Argentinien war Ignaz Männle mit seinen Motorenkenntnissen ein gefragter Mann und fand schnell eine gute Anstellung in Buenos Aires und später in einer Fabrik der ‘Auto AG’ in Córdoba und auch eine Frau. Eliza war zwei Jahre vor ihm mit ihren Eltern, ungarischen Juden, nach Argentinien gekommen. Sie war bildhübsch, was mein Großvater wohl auch fand, weshalb er viele Kinder mit ihr gemacht hatte. Aber nicht nur mit ihr. Mein Großvater war ein großer blonder Hüne und fand wohl viele Gelegenheiten, sich fortzupflanzen ...“

 

international sepia buenosaires2dicht dran... aus "Dicht dran", Seite 146:

Der alte Mann saß wie jeden Tag an seinem großen dunklen Schreibtisch. Die Arbeit halte ihn jung, betonte er immer wieder zu seinen Freunden, die allerdings in den letzten Jahren immer weniger wurden. Er durfte gar nicht daran denken, dass er erst vor vier Jahren Ignazio, mit dem er bis zuletzt ein Mal in der Woche Schach gespielt hatte, zu seiner letzten Ruhestätte begleitet hatte.

Stumm ging er, wie so viele andere, ein paar wenige von den Alten und viele von deren Nachkommen, hinter dem mit grünem Buchs geschmückten Eichensarg und wollte nicht daran denken, wie er gleich in dem eigens für ihn ausgehobenen Loch verschwinden würde, sondern lenkte seine Erinnerungen an die fiebrigen Nächte in den fünfziger Jahren, als sie beide durch das pulsierende Buenos Aires streiften, nichts als Dummheiten und Frauen im Kopf.

Das war lange her, aber in seinem Kopf war es an manchen Tagen so, als wäre es erst gestern gewesen. Wie hatte er das Leben nach dieser Stalingrader Scheiße, der er irgendwie glücklich entronnen war, mit allen Sinnen und Körperteilen zu greifen versucht. Er hatte vor lauter Leben gar nicht schlafen wollen, er konnte genauso wie sein Freund Ignazio nicht genug kriegen davon. Von den argentinischen Frauen, also den Frauen, die aus allen Winkeln Europas kommend, hier ihre neue Heimat suchten und meist auch fanden, nachdem sie all die Enge und Gräuel des in sich vollkommen zerstrittenen und deshalb dahinsiechenden Europas hinter sich gelassen hatten. Genauso wie die Männer, die wie er als deutsche Soldaten dort nur mehr einen Dreck wert waren, oder Juden, wie Ignazio, denen seine Landsleute in der stickigen und spießigen Atmosphäre des europäischen Untergangs, das Leben schwer und meistens unmöglich machten.

Von all dem Mist befreit, konnten sie hier das pralle Leben greifen und hatten Platz, sich zu entfalten. Ignazio, der große Blonde, hatte am meisten Glück bei den Frauen. Und er wusste dieses Glück zu schätzen. Der alte Mann musste bei den Erinnerungen daran lächeln.

 

international sepia buenosaires3dicht dran... aus "Dicht dran", Seite 169:

Simone saß nervös in dem kleinen Café in einer Seitenstraße der Calle Florida – mitten in Buenos Aires – und konnte nicht recht den Kaffee genießen, den Harry und sie sonst immer lobten. Sie hatten das kleine Café gleich nach ihrer Ankunft in Buenos Aires entdeckt. Das war jetzt vier Tage her, aber jetzt war Harry nicht mehr da. Seit gestern war er verschwunden, spurlos verschwunden. Sie war zwar beunruhigt gewesen, als er abends nicht wie verabredet zu dem kleinen Restaurante kam und dann auch nicht ins Hotel, aber sie hatte es als Begleiterscheinung seines Jobs verbucht – und den nahm er ernst, verdammt ernst.

Allerdings hatte er versprochen anzurufen, wenn irgendetwas passieren sollte. Auf diesen Anruf wartete sie noch immer. Alle paar Minuten zog sie ihr Handy aus der Tasche, um zu schauen, ob sie vielleicht einfach das Klingeln überhört hatte. Sie versuchte sich damit zu beruhigen, dass er jetzt in der Schlussphase seines Projektes, kurz vor seinem Durchbruch, einfach keine Zeit finden konnte, während er die heiße Spur – und sie war wirklich heiß – verfolgte.

Sie hatten darüber gesprochen, was sie mit den Dokumenten und den braunen Briefumschlägen tun sollte, die seit Montag in einem Schließfach bei der Deutschen Bank verwahrt waren, falls er … Sie versuchte diese Gedanken zu verdrängen und fragte sich, wie schon so oft, wie sie nur in diese unglaubliche Geschichte hatte geraten können. Eine Geschichte, die mehr und mehr ihr Leben komplett auf den Kopf stellte.

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